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Europäisches Kulturerbejahr 2018 hautnah erlebt Die Klasse 6b unterwegs im Lübecker Gründungsviertel


Für Schüler, die sozusagen mit dem Holstentor und der Marienkirche vor der eigenen Haustür aufwachsen, ist es eigentlich keine neue Erkenntnis, dass Lübeck auf eine lange und bewegte Geschichte zurückblickt. Trotzdem drehte sich auf unserem Wandertag, an dem wir, die Schülerinnen und Schüler der 6b, uns mit Herrn Diekmann und Frau Koschel auf den Weg durch Lübeck machten, alles um die Begriffe „Archäologie“ und „Stadtführung“. Bei diesen Worten kamen uns sofort unzählige Häuser auf der Altstadtinsel in den Sinn, ein nicht enden wollendes Kopfsteinpflaster, schmale Gänge und enge Gassen und natürlich die sieben Türme des UNESCO-Weltkulturerbes Lübeck.

Aber heute sollte es anders kommen: In glühender Hitze spazieren wir von der Schule aus durch die Innenstadt zur Untertrave. Unser Ziel sind keine traditionsumwobenen Ganghäuser oder altehrwürdige Kirchen, sondern ein Holzkeller. Kann das spannend werden? Ja, kann es. Das Patent: schätzungsweise aus dem 12. Jahrhundert, das Herstellungsjahr: 2018. Wie passt das zusammen? Bestens – denn unter dem Motto „Sharing Heritage“ wurde das Jahr 2018 zum Europäischen Kulturerbejahr ernannt, quasi pünktlich zum 875. Geburtstag der Hansestadt.

Ein archäologischer Sensationsfund in Lübeck

Über 40 Holzkeller dieses Bautyps wurden bei Bauarbeiten in der Lübecker Innenstadt zwischen 2009 und 2016 im ältesten Stadtviertel Lübecks entdeckt. Sie stammen tatsächlich aus der Zeit der Stadtgründung und sind damit für Archäologen ein Sensationsfund. Auf der nördlichen Wallhalbinsel treffen wir Mitarbeiter der Lübecker Jugendbauhütte. Sie erzählen uns, dass sie gerade auf Hochtouren daran arbeiten, einen solchen mittelalterlichen Lübecker Holzkeller im Originalmaßstab nachzubauen. Angeleitet werden sie dabei von Eric Janssen, der als gelernter Zimmermann und Kulturwissenschaftler ein Spezialist für diese Aufgabe ist. Das Team arbeitet eng mit dem Abteilungsbereich Archäologie und Denkmalpflege der Hansestadt Lübeck zusammen, in deren Auftrag das Projekt stattfindet. Finanziell unterstützt wird es anlässlich des Europäischen Kulturerbejahres 2018 von der Bundesregierung und von der Lübecker Possehl Stiftung. Von den FSJlern erfahren wir außerdem, dass in diesem Jahr besonders viele Menschen die Gelegenheit bekommen werden, sich die Ergebnisse ihres Projekts anzuschauen. In Berlin findet nämlich die Landesarchäologieausstellung „Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland“ statt. Die Jugendlichen erzählen uns, dass der Stadt Lübeck ein zentraler Teil der Ausstellungsfläche zur Verfügung steht. Dort wird die Lübecker Jugendbauhütte unter anderem ihre Rekonstruktion des mittelalterlichen Holzkellers präsentieren, der im Original 9 x 6x 2,50 m misst.

Unsere Zeitreise ins 12. Jahrhundert beginnt

Wir stehen in sengender Hitze. Vor uns liegen auf dicken Eichenstämmen Werkzeuge, und wir ahnen, dass Arbeit auf uns zukommt. Zuerst sollen wir herausfinden, mit welchen Hilfsmitteln sich Lübecker im 12. Jahrhundert einen solchen Keller gebaut haben: Verschiedene Äxte, Beile, Stemmeisen und Sägen erkennen wir natürlich ohne Probleme, aber was in aller Welt sind „Ziehmesser“ und „Schlagschnüre“? Wenig später wissen wir bestens Bescheid, denn das Team der Lübecker Jugendbauhütte stellt uns alle Werkzeuge der Reihe nach vor – genau so, wie sie beim Kellerbau zum Einsatz kommen – und erklärt uns, wie man mit ihnen arbeitet.

Echte Hand- und Schwerstarbeit…

Schnell wird uns klar, dass es der Kellerbau in sich hat – nicht nur wegen der tropischen Temperaturen, die gerade in Lübeck herrschen, sondern vor allem, weil es sich um echte Hand- und Schwerstarbeit handelt. Auf vier Eichenbohlen dürfen wir mit Ziehmessern das Splintholz vom härteren Kernholz entfernen. Gesägt wird zu zweit – eine absolute Teamarbeit, weil sie nur funktioniert, wenn man sich auf einen gemeinsamen Takt einigt. Fast überall dürfen wir selbst Hand anlegen, um zu begreifen, wie anstrengend die Arbeit ist und wie viele Arbeitsschritte nötig sind, um den mittelalterlichen Keller nachzubauen. Wir testen, wie man mit Schlagschnüren auf Baumstämme gerade Kreidestriche ziehen kann wie schwer die Beile sind, die vor uns liegen.

Schnell kommt die Frage auf, weshalb man den Keller nicht mit modernen Werkzeugen viel schneller und einfacher nachbaut und die Bohlen des Kellers anschließend auf „alt“ trimmt. Eric Janssen erklärt uns, weshalb das keine gute Idee wäre. Der Nachbau sähe ganz anders aus als das Original, wenn man beispielsweise mit einer Motorsäge arbeiten und die Holzoberfläche später per Hand nacharbeiten würde. Außerdem gehe es in dem Projekt ja auch darum, die Arbeitsweise der Bauleute vor 800 Jahren möglichst genau nachzuvollziehen und für Besucher der Ausstellung begreiflich zu machen. Dazu will das Team der Jugendbauhütte auch herausfinden, wie lange der Bau eines solchen Kellers dauert. Das wüssten auch wir zu gern, nachdem wir uns zentimeterweise an den schweren Eichenstämmen zu schaffen gemacht haben und dabei schon ins Schwitzen gekommen sind.

… und detektivische Spurensuche

Erstaunt sind wir darüber, dass noch gar nicht sicher ist, was in diesen Kellern gelagert wurde. Tatsächlich tappen die Archäologen bis jetzt im Dunkeln und haben nur vage Vermutungen. Zum Beispiel werden die Keller für Nahrungsmittel wie Getreide viel zu feucht gewesen sein. „Dann kommen die Archäologen immer mit ihrem Konjunktiv“, bemerkt Frau Dr. Sudhoff schmunzelnd und erzählt, dass bei archäologischen Funden ab dem späten 13. Jahrhundert eine viel größere Chance besteht, ihren Nutzen zu bestimmen. In den Stadtbüchern seien ab dieser Zeit Grundstücke, deren Bebauung sowie Eigentümer und teilweise sogar deren Berufe genau verzeichnet worden, und diese Angaben würden den Archäologen heutzutage enorm helfen. Dass in den Kellern kaum sichere Spuren von gelagerten Materialien und Geräten erkennbar seien, liege auch daran, dass Hausbewohner vor der Aufgabe ihres Kellers natürlich sämtliche Waren entfernt hätten, schließlich seien diese ja wertvoll gewesen. Unfassbar, dass über solchen Kellern im Laufe der Geschichte diverse Gebäude und in der Schmiedestraße sogar ein Schwimmbad entstanden sind!

Und wir schaffen es doch… – ein Kellerbau in Rekordzeit 

Nachdem wir eine Ahnung davon bekommen haben, dass man für den Kellerbau im Lübeck des 12. Jahrhunderts eine große Portion Geduld brauchte, zeigt uns das Team der Lübecker Bauhütte noch ein bereits fertiges, selbst gezimmertes Modell des Holzkellers im Maßstab von 1:5. Wir dürfen es vollständig auseinandernehmen und versuchen gemeinsam, die Bohlen wieder zusammenzusetzen. An dem Modell wird uns klar, wie sehr die Handwerker damals auch darauf achten mussten, die Wände des Kellers gleich schnell zu errichten, damit diese tatsächlich gerade im Erdboden standen. Schließlich wurden damals weder Nägel noch Dübel verwendet. Lediglich die mit Erde verfüllte Baugrube stützte die Wandbohlen.

Eine Stadtführung mit Dreck, Gold und Tiefgang

Wenig später treffen wir vor der Marienkirche – endlich einmal im Schatten – die FSJ-lerin Katja Wernicke und die Lübecker Archäologin Frau Dr. Sudhoff. Katja führt uns durch das Gründungsviertel, den ältesten Teil der Stadt Lübeck, der sich zwischen dem Hafen an der Untertrave, dem Marktplatz und Straßen nahe der Marienkirche erstreckt.

Die Zeitreise im Eiltempo durch 875 Jahre Stadtgeschichte rollt sie allerdings nicht vom Anfang auf, sondern beginnt mit dem, was viele von uns durch Groß- und Urgroßeltern kennen: der Zerstörung Lübecks im Zweiten Weltkrieg. Katja lässt uns schätzen, zu wie viel Prozent die Stadt zerbombt wurde, erklärt uns die Angriffstaktik, den Unterschied zwischen Splitter- und Brandbomben.

Und so wird für uns nachvollziehbar, weshalb unsere Entdeckungstour durch das Gründungsviertel, vor dem wir stehen, ausgerechnet mit dem Blick auf eine Häuserfassade aus den 50-er Jahren beginnt. Das Miele-Fachgeschäft vor uns wirkt ziemlich unspektakulär angesichts der Marienkirche und der vielen Attraktionen des Gründungsviertels, die wir in der nächsten Stunde zu sehen bekommen.

Wir machen immer wieder Halt vor prächtigen Häuserfassaden, reich verzierten Hauseingängen und Torbögen, um Katja zuzuhören. Dass europäisches Kulturerbe aber nicht nur glänzen kann, beweist sie uns sehr überzeugend, denn sie zeigt uns Fotografien von Fundstücken unmittelbar nach deren Ausgrabung. Schwarze Gegenstände, unförmig, mal an ihren Konturen gerade eben erkennbar – meistens allerdings für uns ein dunkles Rätsel. Es wird uns deutlich, dass Archäologen einen sehr genauen Blick und scharfen Verstand besitzen müssen, damit – wie Katja es nennt – mittelalterliche Kloaken zu Schatzgruben werden. Wir spekulieren, um was für Gegenstände es sich handeln könnte, und Katja löst das Rätsel, indem sie uns Fotografien derselben Fundstücke nach deren Restauration zeigt. Und sofort ist es sonnenklar: Was wir für eine Leiter hielten, entpuppt sich als Vogelkäfig, und was wie ein Helm aussah, ist das Geldsäckchen eines Lübecker Bürgers, vielleicht eines wohlhabenden Händlers. Wir bewundern Holzschuhe, die die Menschen damals über ihre Schuhe zogen, um sich vor dem Dreck in den Straßen zu schützen. Wir lernen die mittelalterlichen Vorfahren von Spiderman und Barbie kennen – Holzfiguren, mit denen die Kinder in den Gassen des Gründungsviertels spielten. Ein Goldring mit Edelsteinen in den Farben der Hanse – Rot und Weiß – lässt uns erahnen, was es damals hieß, in dieser Stadt zu den Reichen zu gehören.

Und dann – schließt sich unser Kreis, denn einerseits bekommen wir es ein zweites Mal mit einem Keller zu tun, andererseits befinden wir uns wieder bei dem Miele-Fachgeschäft gegenüber der Marienkirche, dem besagten Fünfziger-Jahre-Bau, an dem man ohne Stadtführung sang- und klanglos vorbeigehen würde, wenn man nicht gerade auf der Suche nach einer neuen Waschmaschine ist. Und hier wird plötzlich deutlich, was Archäologie und Stadtplanung in Lübeck miteinander zu tun haben und dass das eine nicht ohne das andere geht, wenn man die Idee eines europäischen Kulturerbes ernst nimmt. Wir stehen in einem Backsteinkeller aus dem 13. Jahrhundert, dessen Gewölbe aussieht, als befänden wir uns in einem noch unentdeckten Keller der Marienkirche – gotisches Rippengewölbe, wohin unser Blick auch fällt. Die Vorstellung, dass über uns gerade Waschmaschinen verkauft werden, ist bereits merkwürdig genug, aber Altes und Neues prallen in diesem Keller aufeinander wie wohl kaum anderswo in Lübeck. Denn der Blick auf die vielen Pappkartons verrät uns, dass wir mitten in einem Miele-Warenlager stehen. Katja erklärt, dass sich der Keller in Privatbesitz befindet und es eine wahrscheinlich einmalige Chance sei, heute als Besucher hier stehen zu dürfen. Da sich der Keller so tief unter der Erde befinde, sei seine Temperatur sehr konstant, wodurch er sich eben auch heute noch besonders gut als Warenlager eigne. Wir erfahren, dass er nicht beheizt werden dürfe, um einen Einsturz des Gewölbes zu verhindern, und einige von uns blicken etwas nervös auf die Betonstützen, die das alte Gewölbe sichern.

Dass Katja uns eine Vorstellung davon vermitteln konnte, wie aufwändig, aber auch spannend und kniffelig es sein kann, europäisches Kulturerbe zu erforschen, zeigt sich am Ende ihrer kleinen Stadtführung. Uns sind eine Menge Fragen gekommen: Kann es gefährlich sein, als Archäologe in Jahrhunderte alten Kellern und mittelalterlichen Kloaken zu graben, weil es damals doch auch Seuchen und Epidemien gegeben hat? Und wer ist eigentlich dafür verantwortlich, solche Fundorte mitten in Lübeck zu schützen und zu restaurieren? Wie kann man moderne Stadtplanung betreiben, wenn sogar in so tiefen Erdschichten der Hansemetropole noch Kulturerbe schlummert?

Der Wandertag macht seinem Namen alle Ehre: Nach fünf Stunden, in denen wir fast durchgängig gelaufen sind, gedanklich auf den Spuren Lübecker Bürger durch die Jahrhunderte geeilt sind und unsere Kräfte an Eichenplanken gemessen haben, sind wir restlos erledigt. Wir sind durstig, erschöpft und wollen am liebsten im Schatten der Marienkirche sitzen bleiben, anstatt zur Schule zurückzuwandern. Aber die Strapazen haben sich gelohnt, denn wir sehen manches in der Stadt mit anderen Augen: Wir sehen nicht nur Backsteinfassaden, denen ein so verstaubtes Wort wie „Denkmalschutz“ anhaftet, sondern Räume und Dinge, die uns mit ein bisschen Fantasie in plötzlich lebendig werdende, frühere Zeiten entführen.

Eins ist klar: Ein Kulturerbe anzutreten erfordert jede Menge Kraft, detektivisches Feingespür, einen genauen Blick, einen wachen Verstand und viel Fingerspitzengefühl!

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Eric Janssen und dem gesamten Team der Jugendbauhütte Lübeck, dass wir bei euch so viel experimentieren durften, bei Frau Dr. Sudhoff für die vielen archäologischen Insider-Informationen und ganz besonders bei Katja Wernicke für eine tolle Stadtführung, die auch bei hitzefrei-verdächtigen Temperaturen eine hochspannende Entdeckungstour war!

Adressen und Links für weitere Informationen:

Wer Lust bekommen hat, sich das Holzkellerprojekt einmal selbst anschauen und im Gründerviertel auf archäologische Spurensuche zu gehen, findet hier die wichtigsten Kontaktdaten:
Hansestadt Lübeck
Fachbereich Kultur und Bildung
4.491 – Archäologie und Denkmalpflege
Abteilung Archäologie
Meesenring 8
23566 Lübeck

Dr. Manfred Schneider: manfred.schneider@luebeck.de, Tel. 0451 – 122 7151

Dr. Dirk Rieger: dirk.rieger@luebeck.de, Tel. 0451 – 122 7176

Dr. Ingrid Sudhoff: Ingrid.sudhoff@luebeck.de, Tel. 0451 – 122 7155

Demnächst wird es auch eine Homepage zu dem Projekt mit vielen Hintergrundinformationen geben. Die Seite befindet sich zur Zeit noch im Aufbau.

Direkt zur Landesarchäologieausstellung in Berlin „Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland“ führt dieser Link:

http://www.smb.museum/ausstellungen/detail/bewegte-zeiten.html

Und weitere Kulturerbeprojekte in ganz Europa werden im Internet vorgestellt unter:

https://sharingheritage.de/

Text: Christina Koschel
Fotos: Frau Dr. Sudhoff, Richard Diekmann, Hansestadt Lübeck