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Die Holocaust-Überlebende und israelische Künstlerin Sara Atzmon gestaltet eine ganz besondere Geschichtsstunde


Gleich bei ihrem Eintreffen machte Sara Atzmon klar, dass sie nicht auf der Bühne sitzen würde. Sie wollte dicht dran sein an den Schülerinnen und Schülern und suchte auch sofort das Gespräch mit einigen  in der ersten Reihe. Es geht der Zeitzeugin, die selbst 22 Enkel im Alter der Jugendlichen hat, darum, durch die Schilderung ihrer Erlebnisse aufzuklären, wohin Rassismus und Hass führen können.

Die heute in Israel lebende 84-jährige Jüdin Sara Atzmon berichtete den Schülerinnen und Schülern des 9. Und Q2-Jahrganges am 31.1.2018 von ihrem Leidensweg während der NS-Diktatur, begleitet von ihrem Mann Uri und der Mitarbeiterin der Gedenkstätte Yad Vashem, Ebba Tate.

Schulleiter Peter Flittiger schlug bei seiner Begrüßung einen Bogen zur aktuellen politischen Situation. Mit einem Zitat des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland belegte er, dass im Deutschen Bundestag mittlerweile Vertreter einer Partei sitzen, die einer Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen das Wort reden und sich offen antisemitisch äußern. Solchen Haltungen gelte es entgegenzutreten durch Aufklärung. Eine Zeitzeugin befragen zu können, bezeichnete Flittiger als besondere Chance, die nur noch selten bestehe.

In der mit über 200 Jugendlichen voll besetzen Aula herrschte gebannte Stille, als Sara Atzmon dann zu berichten begann:

Die aus der ungarischen Stadt Debreczin stammende Sara Atzmon ( geb. Gottdiener) war 7 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie in ein österreichisches Arbeitslager deportiert wurde. Es waren die Details in Sara Atzmons Bericht, die die Grausamkeit des NS-Regimes aufscheinen ließen. Zum Beispiel wurde ihrem Vater der Bart abrasiert, eine schwere Demütigung für einen Rabbiner. Ein anderes Mal mussten die Inhaftierten zwei Tage lang nackt ausharren, während SS-Wachmannschaften mit schweren Stiefeln durch ihre Reihen gingen. Später, als die Familie auf einem  Bauernhof harte körperliche Arbeit verrichten musste, starb ihr Vater geschwächt von den vielen  Entbehrungen.  „Der SS-Offizier, der uns bewachte, gestattete, dass zehn jüdische Männer aus dem Nachbarort kommen und das Kaddisch, das Trauergebet, sprechen durften“, schilderte die Zeitzeugin. Das zeige, dass es auch innerhalb eines brutalen Systems Spielräume für Menschlichkeit gegeben habe.

Mit 96 weiteren Häftlingen, die sich einen Eimer  Wasser und einen zweiten Eimer für die Notdurft teilen mussten, wurde sie 1944 in einem Viehwagon nach Ausschwitz deportiert. Der Transport erreichte allerdings nicht sein Ziel, weil das Vernichtungslager überfüllt war, und wurde zum Konzentrationslager Bergen- Belsen umgeleitet.

 

Seuchen, Hunger und brutale Willkür waren dort  an der  Tagesordnung. Häftlinge wurden zu Versuchszwecken vorsätzlich mit Typhus infiziert, der Anblick bis auf die Knochen abgemagerter Leichen und der Gestank nach Verwesung  waren Normalität.

Ob sie immer die Hoffnung behalten habe, dieses Grauen zu überleben, wollte Fynn wissen. Die Frage bejahte Sara Atzmon ausdrücklich. Kraft habe ihr die Tatsache gegeben,  nicht allein, sondern mit weiteren Familienangehörigen im Lager zu sein.

Auf 17 kg abgemagert wurde Sara Atzmon, inzwischen 12 Jahre alt,  schließlich von amerikanischen Soldaten am 13. April 1945 aus einem Viehwagon befreit, den SS-Wachleute auf dem Weg nach Auschwitz auf den Gleisen hatten stehen lassen. Zum zweiten Mal war sie damit dem Vernichtungslager entkommen. Einen der 16 GIs, die den Transport befreit haben, traf Sara Atzmon vor Kurzem in den USA. „Das war ein unbeschreibliches Gefühl, meinen  Retter noch einmal wiederzusehen“, schilderte Sara Atzmon. Über 60 Familienangehörige aber sind der nationalsozialistischen Diktatur zum Opfer gefallen.

Sara Gottdiener emigrierte nach Kriegsende als Waise nach Palästina. Dort besuchte sie zum ersten Mal eine Schule und engagierte sich später für den jungen Staat Israel, heiratete den Israeli Uri Atzmon und fing erst 40 Jahre nach der Shoa an, von dem zu sprechen, was ihr widerfahren war. Früher, so sagte sie dazu befragt, habe sie sich den grauenvollen Erlebnissen und inneren Bildern nicht zu stellen vermocht.

Im Alter von 55 Jahren fing Sara Atzmon schließlich an zu malen. „Worte vermögen nicht auszudrücken, was  in mir vorgeht“, berichtete die Zeitzeugin. „Sie sind vergänglich. Bilder hinterlassen einen bleibenden Eindruck.“ Einige dieser ausdrucksstarken Gemälde waren während ihres Berichts im Hintergrund zu sehen.

Warum sie ihre Erlebnisse erzähle, fragte Sara Atzmon  am Ende der Veranstaltung die Schülerinnen und Schüler und erklärte dann selbst, sie wolle, dass junge Menschen im Wissen um die Verbrechen der Nationalsozialisten Verantwortung übernehmen für die Gestaltung einer Gesellschaft ohne Diskriminierung und Ausgrenzung.

Ihr Mann Uri Atzmon rief die Jugendlichen dazu auf, im Alltag nicht wegzusehen, wenn Ungerechtigkeiten geschehen. Frühzeitig einzugreifen, Zivilcourage zu zeigen sei wichtig. Mit der Metapher vom Feuer, das sich immer weiter ausbreitet und schließlich ein ganzes Haus vernichtet, machte er deutlich, dass jeder in seinem Umfeld einschreiten solle, bevor Rassismus und Diskriminierung in einer Gesellschaft immer weiter zunehmen und schließlich mehrheitsfähig werden.

Zum Schluss holte Sara Atzmon eine Mundharmonika hervor und spielte für ihr Publikum eine Melodie, die ihr Vater nach seinem Synagogenbesuch am Sabbat immer gespielt hatte. Berührt applaudierten die Schülerinnen und Schüler, bedankten sich bei Sara Atzmon für ihr Kommen und dass sie sie an ihren schmerzhaften und belastenden Erlebnissen hatte teilnehmen lassen.

„Sollte jeder Jugendliche in seiner Schulzeit ein Konzentrationslager besuchen?“  „Haben die Deutschen gewusst, was mit den Juden geschah?“ Obwohl die Zeitzeugin viele Fragen beantwortete, bleibt viel Gesprächsstoff für die Geschichtsstunden der kommenden Wochen. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit wird weitergehen. Jede Genration wird sich der Frage stellen, wie sie damit umgehen will.

Am Nachmittag desselben Tages empfing Bürgermeister Bernd Saxe die Zeitzeugin und ihre Begleitung im Audienzsaal des Rathauses, bedankte sich für ihren Besuch und ihr Engagement.

Unser Dank gilt der Initiatorin und Organisatorin des Deutschlandbesuchs von Frau Atzmon, Frau Finke-Schaak vom Ostsee-Gymnasium Timmendorfer Strand.

Außerdem danken wir dem Schulverein für die Übernahme eines Teils der Kosten, die uns die Begegnung mit dieser authentischen Zeitzeugin ermöglicht hat.

 

Weiterführende Links:

Sara Atzmon zählt zu den bekanntesten israelischen Malerinnen, deren Werke im In-und Ausland ausgestellt werden.

http://www.saraatzmon.org/de/

In dem 2012 erschienenen Dokumentarfilm „Holocaust light gibt es nicht“ erzählt Sara Atzmon nicht nur ihre Geschichte und sucht  die Orte ihres Leidens auf. Der Film schlägt auch den Bogen zu heute und problematisiert Unkenntnis und Geschichtsverdrängung heutiger Jugendlicher.

http://www.holocaustlight-derfilm.de/de/sara-atzmon.html

 

Text und Fotos: Mechthild Piechotta