Schule im Kaiserreich – Thomas-Mann-Schüler aus Prag und Lübeck beschäftigen sich mit dem Schulkapitel des Romans „Buddenbrooks“
Auf eine Spurensuche zu Thomas Mann begaben sich die Schülerinnen und Schüler der Klasse 9a und ihre Partner aus der gleichnamigen Schule aus Prag vom 5. bis 10. Juni 23.
Zunächst lernten sich die Teilnehmer mit Hilfe eines Fragebogens kennen. Anschließend machten sie sich mit der Handlung des Romans „Buddenbrooks“, für den der Namensgeber unserer Schulen 1929 den Literaturnobelpreis bekommen hat, und dessen Hauptfiguren vertraut.
Und weil Thomas Manns Geburtstag sich am ersten Projekttag zum 148. Mal jährte, wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Bürgermeister Jan Lindenau im Audienzsaal des Rathauses empfangen. Im Roman wird hier Thomas Buddenbrook zum Senator gewählt.
Rathauschef Lindenau erläuterte den Schülerinnen und Schülern Geschichte, Funktion und Ausstattung des Raumes.
Spiridon Aslanidis, Vorsitzender des Vereins der Lübecker Partnerschulen, demonstrierte, was es mit der unterschiedlichen Türhöhe zum Saal auf sich hat: Die vom Gericht Verurteilten mussten ihren Hut ziehen und passten nur noch durch die niedrige Tür. Die Freigesprochenen verließen erhobenen Hauptes mit Kopfbedeckung den Gerichtssaal.
Diese und viele weitere geschichtliche Zusammenhänge vermittelte Lindenau anschaulich und schülernah auf einer Führung durch seinen Amtssitz und sparte auch sein Büro dabei nicht aus.
Bei hochsommerlicher Wärme war anschließend Durchhaltevermögen gefragt, als die Schülerinnen und Schüler bei einem Stadtrundgang die Drehorte des Films aufsuchten. Für den würdelosen Tod des diabetischen James Möllendorff aus den „Buddenbrooks“ hatte Thomas Mann ein heruntergekommenes Ganghaus als Handlungsort gewählt. Die engen Hinterhöfen waren den Geschwistern Mann vom Spielen als Kinder vertraut.
30 Jahre Buddenbrookhaus – An der Jubiläumsveranstaltung im Katharineum nahmen die deutschen und tschechischen Lehrkräfte am Abend teil.
Am nächsten Morgen beschäftigten sich die Schülerinnen und Schüler mit dem Schulkapitel aus dem Roman „Buddenbrooks“. In dieser Episode des Werkes charakterisiert Thomas Mann das Schulsystem der Kaiserzeit. Stumpfsinniges Auswendiglernen, Gehorsam und Konformität prägten die Anforderungen an die ausschließlich männliche Schülerschaft eines Gymnasiums. Willkür, Machtmissbrauch und Gleichgültigkeit kennzeichnen die unterschiedlichen Lehrerpersönlichkeiten des Romans.
Deutschlehrerin Christina Dudzik forderte die tschechisch-deutsch gemischten Gruppen dazu auf, Adjektive und Zitate der Hauptfigur Hanno Buddenbrook, seinem Freund Kai Graf Mölln, der Gruppe der Lehrer und übrigen Schüler zuzuordnen. Auch mithilfe ausdrucksstarker Emojis veranschaulichten sie deren Eigenschaften treffend.
Danach ging es um die Beziehungen der Romanfiguren untereinander: Wie stehen Hanno und Kai zueinander? Wie die Klassenkameraden der beiden? Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern verdeutlichen? Dazu stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Standbilder. Zuvor hatten sie unter Anleitung von Lehrerin für Darstellendes Spiel, Kirsten Engler, erprobt, wie sich mithilfe von Körpersprache und Positionen im Raum zwischenmenschliche Beziehungen wie Solidarität und Gemeinschaft, aber auch Unterwerfung und Gehorsam darstellen lassen.
Nach Unterrichtshospitationen in den ersten drei Stunden, in denen die Gäste aus Prag unsere Unterrichtskultur erlebten, brachen die Schülerinnen und Schüler am Donnerstag nach Travemünde auf. Wie Hanno Buddenbrook genossen sie, Verpflichtungen hinter sich zu lassen, Wärme, Weite und Nichtstun zu genießen. Mit einem Picknick unterm Kastanienbaum stärkten sich alle für das erste Bad in der noch frischen Ostsee, das unser Schulleiter Dirk Rother als Sportlehrer den Jugendlichen ermöglichte.
Eine landeskundliche Exkursion nach Hamburg zur Hafencity rundete am Freitag das Programm ab. Den fantastischen Ausblick von der Terrasse der Elbphilharmonie genossen alle in vollen Zügen. Danach ging es zu einem städtebaulichen Rundgang durch das Quartier.
Eine Eispause im Überseequartier kam bei der Hitze gerade recht.
Schließlich saßen alle in einem schattigen Innenhof im Zentrum zum Mittagessen zusammen, bevor sie zur Stadterkundung in Kleingruppen aufbrachen.
Beim Abschied in einem Lübecker Lokal tauschten sich dann die Schülerinnen und Schüler über ihre Erfahrungen im Austausch aus. Anhand der Finger einer Hand erfolgte die Auswertung:
Daumen: Was war gut?
Für beide Gruppen war die gemeinsam verbrachte Freizeit besonders schön. Abendliche Treffen auf der Falkenwiese, das geht in Prag nicht, wo die Schüler so weit von der Schule entfernt wohnen, dass sie sich am Nachmittag nicht spontan verabreden können.
Zeigefinger: Was habe ich gelernt?
Sicherlich viel über Thomas Mann, z.B. den Wandel seiner politischen Einstellung. Dass die Tschechoslowakei ihm die Staatsbürgerschaft anbot, als ihm die deutsche entzogen wurde.
Mittelfinger:???
Ringfinger: Was hat mich emotional berührt?
Aus Fremden werden in wenigen Tagen Freunde – das ist eine beglückende Erfahrung.
Kleiner Finger: Was hat mich überrascht?
Auf Seiten der tschechischen Schüler war es bestimmt, dass Lübeck sehr grün ist und wir überallhin mit dem Fahrrad fahren. Die kurzen Wege gehören zu den Erfahrungen, die unerwartet schön waren.
Für die Lübecker Seite gilt, dass die hervorragenden Deutschkenntnisse der Prager Schüler uns sehr beeindruckt haben.
Sofort waren alle in intensive Gespräche vertieft, ließen die gemeinsamen Erlebnisse der fünf Projekttage Revue passieren.
Wir freuen uns, die fruchtbare Kooperation mit dem Gymnasium Thomas Mann aus Prag im kommenden Schuljahr fortzusetzen.
Unser Dank gilt unseren Familien für die Gastfreundschaft, mit der sie die tschechischen Schüler aufgenommen haben.
Bürgermeister Jan Lindenau und dem Vorsitzenden des Vereins der Partnerschulen Lübecks, Spiridon Aslanidis, sei gedankt für den Empfang im Rathaus und dass sie uns dessen Schätze näher gebracht haben.
Außerdem bedanken wir uns für die Förderung der Michael Haukohl Stiftung, die wesentliche Aktivitäten des Programms ermöglicht hat.
Darüber hinaus wurde die Begegnung vom Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds gefördert.
Text und Fotos: Mechthild Piechotta